Donnerstag, 24. August 2017

[5/7] Überwindbarkeit, Behandelbarkeit – Je nachdem, wie es dem Bundesgericht gerade gefällt.

Die meisten Artikel, Abhandlungen, Bücher und Reden, welche die IV-Gesetzgebung über die letzten Jahre hinweg beeinflusst haben, wurden aus dem Blickwinkel von gesunden und beruflich erfolgreichen Menschen verfasst. Diese verdrängen häufig die eigene Verletzlichkeit und denken: Falls ich behindert werden würde, dann wäre ich ein erfolgreicher und komplett selbständiger Rollstuhlsportler (deshalb sind solche Helden-Artikel bei Nichtbehinderten auch so beliebt), aber sicher nicht jemand, der je auf das Wohlwollen, das Verständnis und die Unterstützung von Angehörigen, Ärzten und Ämtern angewiesen sein wird. Kurz: wenn ich behindert/krank würde, wäre ich eigentlich gar nicht behindert/krank, sondern genau so willensstark, unabhängig, energiegeladen usw. wie jetzt als Gesunde/r. Man kann sich ja schliesslich zusammenreissen. Und überhaupt haben viele IV-Bezüger sowieso keine «richtigen» Krankheiten. Deshalb ist eine strenge harsche Gesetzgebung mehr als gerechtfertigt.

Werden solche VertreterInnen der «harten Linie» dann direkt mit Menschen mit deutlich sichtbaren Behinderungen konfrontiert, wird die Verdrängung schwieriger und sie reagieren zuweilen verärgert bis aggressiv. Die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel äusserte sich zur Anwesenheit von Behinderten in der Berner Wandelhalle (anlässlich einer IV-Revision) beispielsweise mit den Worten: «Ob dieser Betroffenheitspolitik wird mir fast schlecht.»

Die NZZ- (bzw. bald Weltwoche-) Journalistin Katharina Fontana kommentierte 2013 den Einfluss des CVP-Nationalrates Christian Lohr auf die Ausgestaltung der IV-Revision 6b unter dem Titel «Gratwanderung eines invaliden (sic!) Nationalrates» herablassend und diskreditierend:

Man kann davon ausgehen, dass nicht alle CVP-Nationalräte aus Überzeugung für Lohrs Anträge gestimmt haben, sondern «weil man nicht anders konnte», wie es ein Parlamentarier formuliert. Es sei rein emotional entschieden worden, heisst es, man habe dem behinderten Kollegen nicht in den Rücken fallen wollen. Lohr selber führt seinen Erfolg vor allem auf seine Glaubwürdigkeit zurück.»

(Die IV-Revision 6b wurde dann später komplett versenkt und Lohr’s Argumente dürften entscheidend dazu beigetragen haben).

Man spürte in Fontanas Worten ganz deutlich die Verärgerung: Was meint der Behindi eigentlich, wer er ist? Jetzt müssen wir uns tatsächlich noch mit realen Behinderten rumschlagen. Dabei war doch bisher alles so gut gelaufen. Das Bundesgericht hatte in harmonischem Gleichklang mit der Scheininvaliden-Kampagne der SVP immer mehr Krankheitsbilder als – in der Regel – «mit zumutbarer Willenskraft überwindbar» erklärt. Wissenschaftliche Beweise gab es für diese steile These allerdings nie. Aber Juristen sind schliesslich die besseren Mediziner:

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schliessen sie heute noch Krankheitsbilder von IV-Leistungen aus…

Das Bundesgericht hielt zwar 2015 im Grundsatzentscheid 9C_492/2014 fest, dass die Überwindbarkeitsvermutung aufzugeben und stattdessen jeder Einzelfall individuell und ergebnisoffen abgeklärt werden soll, dieser anfänglich von vielen Seiten begrüsste Richtungswechsel lässt sich jedoch mittlerweile am besten mit «vom Regen in die Traufe» beschreiben.

Kurz nach dem Urteil hatte das BSV im Rundschreiben 339 noch festgehalten, dass alle Krankheitsbilder gleich behandelt werden sollten (was zum einen diskriminierungsfrei wäre und zum zweiten auch Sinn macht, weil bei körperlichen Krankheiten psychische Faktoren oder Ressourcen genauso Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit haben können):

Der Auftrag ist für alle Arten von Gesundheitsschädigungen anwendbar, da es im Hinblick auf eine ressourcenorientierte Abklärung keinen Sinn mehr macht, zwischen psychosomatischen und anderen Leiden zu differenzieren.

Dann wurde dagegen gemeckert, u.a. mittels einer Interpellation von Ignazio Cassis und das BSV krebste zurück. Im aktuellen Kreisschreiben (KSIH) heisst es dann wieder:

Weil die Diagnosestellung, die Erhebung der funktionellen Einschränkungen im Leistungsvermögen sowie die Berücksichtigung von persönlichen und sozialen Faktoren bei körperlichen, geistigen und psychischen (objektivierbare und nicht objektivierbare) Krankheitsbildern unterschiedlich komplex ist, kann hinsichtlich der qualitativen Anforderungen an ein strukturiertes Beweisverfahren je nach Beschwerdebild differenziert werden.

Es gibt also nach wie vor «richtige Krankheiten» und «nicht objektivierbare». Zu zweiteren werden aktuell alle usprünglichen Päusbonogs, zusätzlich Posttraumatische Belastungsstörungen und mittelschwere Depressionen gezählt. Zwar nennen es das Bundesgericht und die IV-Stellen nun nicht mehr «Überwindbarkeit», aber wenn Versicherte mit einer mittelgradigen Depression beweisen müssen, dass sie «therapieresistent» sind, um Anspruch auf eine IV-Rente zu haben, ist das Prinzip dasselbe. Und wer glaubt, dass «mittelgradige Depressionen» die einzige Diagnose bleiben wird, bei der dieser Nachweis verlangt wird, der glaubt auch an den Samichlaus.

Nochmal aus dem aktuellen Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH):

Von Erwerbsunfähigkeit wird erst ausgegangen, nachdem die versicherte Person sowohl die angezeigten beruflichen Eingliederungsmassnahmen als auch die ihr zumutbaren medizinischen Eingliederungsmassnahmen wie z.B. medikamentöse Therapien, Operationen, Psycho-, Ergo- oder Physiotherapien durchlaufen hat.

Wann hat jemand eine Psychotherapie «durchlaufen»? Nach einem Jahr? Nach fünf oder vielleicht erst nach zehn Jahren?

Das Bundesgericht hatte 2001 im Grundsatzurteil 127 V 294 zur potentiell invalidisierenden Wirkung behandelbarer psychischer Störungen noch genau das Gegenteil von dem gesagt, was es jetzt sagt (Hervorhebung durch die Bloggerin):

Nach dem Gesagten ist die bisherige uneinheitliche Rechtsprechung in dem Sinne klarzustellen, dass die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aussagt. (…) Dies bedeutet keineswegs, dass eine fachärztlich festgestellte psychische Krankheit ohne weiteres gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer Invalidität ist. In jedem Einzelfall muss eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein (BGE 99 V 29 Erw. 2; MEYER-BLASER, a.a.O., S. 11 f. und LOCHER, a.a.O., S. 81 N 7 und 10). Entscheidend ist die nach einem weit gehend objektivierten Massstab zu erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern dem Versicherten trotz seines Leidens die Verwertung seiner Restarbeitsfähigkeit auf dem ihm nach seinen Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozial-praktisch zumutbar und für die Gesellschaft tragbar ist (BGE 102 V 165; AHI 1996 S. 303 Erw. 2a und ZAK 1992 S. 170 Erw. 2a mit Hinweisen).
Soweit die Vorinstanz ihren Entscheid mit der Behandelbarkeit (Therapierbarkeit) und fehlenden Chronifizierung einer allfälligen (nicht auszuschliessenden) psychischen Störung begründet, hält dies demnach vor Bundesrecht nicht Stand.

Ob die Verwertung der (Rest)arbeitsfähigkeit für die Gesellschaft tragbar ist, ist übrigens auch eine interessant Frage. Die BSV-Studie «Schwierige Mitarbeiter» (2011) hatte beispielsweise aufgezeigt, dass längerdauernde Problemsituationen mit psychisch auffälligen Mitarbeitenden in 9 von 10 Fällen mit der Kündigung «gelöst» werden. Probleme ergeben sich vor allem mit Mitarbeitenden mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich durch sehr unflexible Verhaltensmuster aus und sind die häufigste Ursache bei den Berentungen aus psychischen Gründen. Die Betroffenen könn(t)en – teilweise – schon arbeiten, sind aber für die Arbeitsumgebung in vielen Fällen offenbar(?) nicht tragbar.

Zurück zur Gesetzgebung im Bezug auf die «Therapierbarkeit». VertreterInnen von SP und den Grünen haben während der parlamentarischen Debatte zur 5. IV-Revision im Jahr 2006  eindringlich (aber vergebens) vor dem neuen Abschnitt a) in Artikel 28 IVG gewarnt:

Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a.
ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
(…)

So beispielsweise Pascale Bruderer (SP):

Artikel 28 stellt für uns wirklich einen ganz grossen Stolperstein dieser Revision dar. Diese neue Bestimmung könnte ein gefährlicher, ein hinterhältiger Wolf im Schafspelz sein. (…) Faktisch führt dies dazu, dass die heute einjährige Wartezeit für den Rentenanspruch bei allen Versicherten, die auf eine Verbesserung ihrer Gesundheit hoffen dürfen, auf unbestimmte Zeit verlängert wird; vielleicht sogar auf den Sankt-Nimmerleins-Tag (…)

Mitte-Rechts zusammengefasst: Jetzt tut nicht so hysterisch, es geht uns doch nuuuur um eine bessere Eingliederung.

Pascale Bruderer:

Wir sind nicht beruhigt, und wir können die Mehrheitsanträge so nicht akzeptieren. Darum stelle ich Ihnen jetzt ganz konkret die Frage: Haben Krebspatientinnen und Krebspatienten und haben Menschen mit psychischen Behinderungen, für die instabile Krankheitsverläufe charakteristisch sind, die also darauf hoffen können, dass ihre Erwerbsfähigkeit wieder besser wird, denen es aus gesundheitlichen Gründen aber nicht möglich ist, an beruflichen Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen, haben diese Menschen weiterhin Zugang zu einer IV-Rente?

Reto Wehrli (CVP), für die Kommission:

Ja, das haben sie. Lesen Sie den Text, es ist klar ausgewiesen. (…) Ich sage es noch einmal: Es werden hier nicht bestimmte Gruppen von Leuten ausgeschlossen; dies auch zuhanden der Materialien.

Das Bundesgericht und die IV-Stellen haben das Memo mit den «Materialien» offenbar nicht bekommen unauffindbar verlegt.




Weg mit der #behoerdenwillkuer und dem #ivdebakel

Quelle: via @ IVInfo, August 24, 2017 at 07:58PM

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