Montag, 7. September 2015

Ralph Boes im Krankenhaus

Hungerstreikender Erwerbslosenaktivist Ralph Boes liegt im Krankenhaus. Linke-Chefin Kipping: Bundesarbeitsministerin muss handeln.
«Es geht um ein Menschenleben»
Seit mehr als zwei Jahren wird der Hartz-IV-Betroffene und Erwerbslosenaktivist Ralph Boes vom Jobcenter Berlin-Mitte mit dem Entzug sämtlicher Leistungen bestraft – jetzt liegt er im Krankenhaus. Er sei am Samstag mit Atemnot, Schwächeanfällen und starken Herzproblemen eingewiesen worden, informierte der 58jährige telefonisch junge Welt. Er liege am Tropf und werde medizinisch überwacht. Unterstützer aus der »Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen« (BbG) bestätigten dies.

Bis dahin hatte Boes 67 Tage keine feste Nahrung zu sich genommen. Er hungerte öffentlich mit täglichen Aktionen vor dem Brandenburger Tor, zuletzt vor dem Bundestag. So will er auf die Situation von Hartz-IV-Beziehern aufmerksam machen, die unter der Strafpraxis leiden. Nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) können Jobcenter Betroffenen stufenweise die Leistungen kürzen, wenn sie zugewiesene Jobs oder Maßnahmen ablehnen, zu wenige Bewerbungen schreiben, Termine verpassen oder unabgemeldet »den wohnortnahen Bereich« verlassen. Über 25jährigen wird beim dritten »Fehltritt« innerhalb eines Jahres die gesamte Leistung inklusive Miete und Krankenversicherung für drei Monate entzogen. Bei Jüngeren reichen dafür zwei Versäumnisse aus. Nach einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) waren im April dieses Jahres knapp 7.000 Erwerbslose »vollsanktioniert«.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Andrea Nahles (SPD) rechtfertigt die Praxis mit Lebensmittelgutscheinen, die ab einer Kürzung um mehr als 30 Prozent beantragt werden könnten. Diese auszuhändigen liegt im Ermessen der Jobcenter. Weder haben Betroffene einen Rechtsanspruch darauf, noch sind Supermärkte verpflichtet, »Essensmarken« zu akzeptieren. Dem Aktivisten Boes hatte das Berliner Amt Ende Juli Gutscheine »angeboten«. Er lehnt dies als »entwürdigend« ab. Bis Ende Juni habe Boes von »freiwilligen Darlehen« gelebt. Auch darauf verzichte er jetzt. Er wolle deutlich machen, dass die Strafen die Existenz bedrohten und somit gegen das Grundgesetz verstießen. Zudem widersprächen sie zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (BverfG). So deklarierten die Karlsruher Richter die ungekürzten Hartz-IV-Sätze 2010 und 2014 als »dem Grunde nach unverfügbares Existenzminimum«. Derzeit muss das BVerfG eine Beschlussvorlage des Sozialgerichts Gotha zur Sanktionspraxis prüfen.

Als Boes 2012 mit seinem Anliegen in die Öffentlichkeit gegangen war, hatte ihn die Bild unter anderem als »Hartz-IV-Schnorrer« und »-Schnösel« beleidigt. Aktuell schweigen die deutschen »Leitmedien« über den Fall ebenso wie Ministerin Nahles. Auf Anfragen von Aktivisten und jW »bedauerte« BMAS-Sprecherin Lena Daldrup, dass Boes »seine Gesundheit für ein politisches Ziel aufs Spiel setzt«. Zur allgemeinen Situation derart Bestrafter sagte sie nichts. Sie betonte, der 58jährige sei selbst schuld. Die BA führt nach eigenen Angaben keine Statistiken darüber, wie viele Vollsanktionen die Jobcenter jährlich verhängen, wie viele Betroffene obdachlos und wem welche Sachleistungen gewährt beziehungsweise verwehrt werden. Der Sprecher des Jobcenters Berlin-Mitte, Andreas Ebeling, berief sich im Fall Boes auf »Datenschutz«.

Auch die Bundesvorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, beißt bisher auf Granit. Mit einem Brief forderte Kipping Nahles am 2. September erneut auf, mit Boes zu sprechen, »um einen Ausweg zu finden«. »Es geht hier um ein Menschenleben«, betonte sie. Auf ihrer Facebookseite wird Nahles seit Wochen von Aktivisten zum Fall Boes angeschrieben, äußert sich aber nicht dazu. Auf der Internetseite »abgeordnetenwatch.de« blieb eine Anfrage an die Ministerin vom 20. August bis gestern unbeantwortet. Der Grünen-Parlamentarier Wolfgang Strengmann-Kuhn erklärte im Interview mit der taz (Freitagausgabe) 100-Prozent-Sanktionen für »menschenunwürdig«. Jobcenter müssten vielmehr mit »Belohnungen« für »gehorsame« Hartz-IV-Bezieher arbeiten. Das Minimum dürfe dabei nicht angetastet werden, forderte er.

Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Jungewelt.de, September 07, 2015 at 05:11PM

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