Sonntag, 20. September 2015

Ich werde gehungert

Der Berli­ner Grundein­kommens­aktivist und Hartz-IV-­Re­bell will not­falls bis zum Tode hungern, um den Staat zur Ab­schaffung der verfassungs­widrigen Sanktions­praxis bei Hartz IV zu bewegen.
Wie lange sind Sie jetzt schon im Hunger­streik?
Kein Hunger­streik. Ich werde gehungert. Hunger­streik heißt: Ich habe Essen und hungere, um jemand anderen zu etwas zu zwingen. Ich bekomme kein Geld, weil ich im Hartz-IV-System nicht konform reagiere. Man will also umgekehrt mich dazu zwingen, konform zu reagieren. Das ist der Unterschied. Wir nennen das Sanktionshungern. Das Wunder ist, dass ich überhaupt lebe, weil ich schon seit drei Jahren Sanktionen kriege und seit über zwei Jahren keinerlei Geld für Essen, Wohnung oder Krankenkasse. Ich müsste also eigentlich schon längst tot sein.
Wie finanzieren Sie sich?
Das geht durch Darlehen. Ich habe ja die Sanktionen extra gewollt, damit es zu einer Klage in Karlsruhe kommt. Weil an jede Sanktion eine Klage dagegen gehängt werden kann. Ich habe mich extra regelwidrig verhalten im Hartz-IV-System, damit die Sanktionen vom Sozialgericht nicht außer Kraft gesetzt werden können. Hinter jede Klage hängen wir ein Gutachten über die Verfassungswidrigkeit und die Aufforderung an den Richter, das nach Karlsruhe weiterzugeben. Das heißt also, je mehr Richter ich erreichen kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das ein Richter dann mal macht. So war das gedacht.
Wie ist Ihr aktueller gesundheitlicher Zustand?
Es ist sehr verschieden, löchrig teilweise. Manchmal fühle ich mich wie an der Grenze des Todes. Letztens war ich eine Woche im Krankenhaus, wegen Herzgeschichten und sowas. Es geht da so hin und her, aber das ist nicht mehr normal. Mein gesamtes Körper- und Welterleben ist sehr gesteigert und anders, als man es gewöhnt ist.
Ihre Aktion wurde als privater Feldzug gegen Hartz IV bezeichnet. Was entgegnen Sie Kritikern, die behaupten, Sie würden den Staat erpressen, um von Steuergeldern leben zu können?
Erstmal ich bin seit jetzt schon drei Jahren sanktioniert. Wenn es Leute gibt, die sagen, ich wäre ein Schmarotzer oder sowas, kann ich nur sagen, ich war immer der Erste, der nur Sanktionen bestellt hat und kein Geld. Ich erpresse den Staat nicht um Geld. Ich möchte, dass das System wieder verfassungsgemäß wird. Es geht um die Verfassungs- und die Menschenrechtsfrage, und Hartz IV ist verfassungswidrig.
Aber nochmal zum Thema Erpressung: Ich und alle Hartz-IVler werden erpresst – und zwar auf Leben und Tod -, genau das zu machen, was die Behörden wollen. Da ist ein gigantischer Erpressungsapparat dahinter. Und wenn ich was gegen das System machen will, muss ich was gegen meine Todesangst machen. Denn das System zieht seine gesamte Kraft aus der Todesangst der Menschen. Also habe ich mir gesagt, ich muss die Todesangst abschaffen, und das habe ich für mich geschafft.
Dadurch wird die Erpressung, die der Staat macht, an mir sichtbar. Es gibt auch Leute, die sagen, es wäre keine gewaltfreie Aktion. Das ist sie auch nicht, aber die Gewalt geht vom Staat aus.
Und zum Thema Verbrauchen des Steuergelds: Jeder, der arbeitet, bekommt durch den Lohnsteuerfreibetrag und die Werbungskosten so viel rein wie ein Hartz-IVler als Lebensunterhaltskosten bekommt. Das heißt für den Rest der erwerbslosen Bevölkerung, dass die Menschenwürde außer Kraft gesetzt wird und die Leute wie Sklaven behandelt werden. Das steht in keinem gerechten Verhältnis zueinander.
Wären Sie zufrieden, wenn Sie persönlich sanktionsfrei Sozialleistungen bekämen?
Nein. Mein ganzer Widerstand ist von vornherein gegen das System angelegt und meine persönliche Situation interessiert gar nicht. Ich hätte mir jederzeit im Hartz-IV-System eine ruhige Ecke suchen können. Die haben ja auch versucht, mich nicht zu sanktionieren, mir keine Eingliederungsvereinbarungen mehr geschickt. Einmal bekam ich sogar eine, in der stand: „Herr Boes verpflichtet sich, allen Anforderungen, die aus der Gesellschaft an ihn herangetragen werden und allen Anfragen, die aus seinem eigenen persönlichen und inneren Leben an ihn herankommen, in freier Wahl umfänglich und in freier Weise zu begegnen.“ Das heißt, ich durfte machen was ich wollte, Hauptsache bei den Pflichten stand irgendetwas drin. Und wenn ich das nicht mache, würde ich sanktioniert werden. Die haben versucht, mich auf allen Wegen freizustellen, aber das habe ich abgelehnt, weil das dann eine Ausnahme nur für mich gewesen wäre.
Was muss passieren, damit Sie das Sanktionshungern beenden?
Die Antwort ist ausnahmsweise Geld vom Staat. Ich selbst kann es nicht beenden, weil ich sanktioniert werde. Ich kann es nur beenden, wenn ich meine Würde begrabe und aus der Mülltonne lebe. Einen Hungerstreik könnte ich beenden, aber da ich nichts bekomme, werde ich gehungert. Damit ist die Frage für mich geklärt.
Was sagen die Ministerien im Moment? Wer hat mit Ihnen gesprochen?
Von den Ministerien hat sich bisher niemand gemeldet. Katja Kipping von der Partei Die Linke hat Kontakt aufgenommen und sich im Parlament über mich geäußert. Wolfgang Strengmann-Kuhn von den Grünen ebenso und verlauten lassen, dass man da was unternehmen möchte. Und Gesine Schwan war hier. Ansonsten rede ich mit den Menschen, die hier vorbeikommen, zum Teil auch Beamte von Jobcentern.
Sie sind vor drei Jahren schon einmal in den Hungerstreik gegangen, aber nur für einen Monat. Was ist diesmal anders und warum diese Protestform?
Das war damals auch ein Sanktionshungern, weil man mir kein Geld gab und ich nichts zu essen hatte. Es war der gleiche Grund, aber ich habe aufgehört, weil sämtliche Sanktionen selbst im Rahmen von Hartz IV falsch waren und die alles zurückziehen mussten.
Sie haben damals also aufgehört, als die Sanktionen aufgehoben wurden?
Ja, aber da ich ja nun schon seit drei Jahren weiter sanktioniert werde, gibt es seitdem drei große Hungerphasen. Das ist jetzt die vierte.
Die erste dauerte 26 Tage, bis die Sanktionen zurückgezogen werden mussten. Die zweite Hungerphase hat sich mit leichter Verzögerung daran angeschlossen, weil die Sanktionen erst wieder aufgebaut werden mussten. Dann hab ich 43 Tage gehungert, und da ging es mir sehr schlecht. Da kamen Freunde und haben angeboten, sie würden für mich hungern und mir das Essen geben, was frei wird. Ich hab mich darauf eingelassen und wir haben das Staffelhungern genannt. Dadurch entstand ein großes Solidaritätsgefühl, da eine ganze Zeit lang immer mehr Leute gehungert haben, jeder mal eine oder zwei Wochen. Das war ein wichtiges Zeichen für mich und ich dachte, so könnte jede Initiative Leute freistellen, um maximalen Druck zu erzeugen, wenn man keine Angst mehr vor Sanktionen haben muss. Dass das keine andere Initiative übernahm, hat mich sehr enttäuscht.
Dann haben wir die Entscheidung getroffen, dass ich eine Deutschlandtour mache und überall Vorträge halte. Ich war dann ein ganzes Jahr lang in Deutschland unterwegs und hatte dadurch immer Obdach und Essen. Zu der Zeit musste ich nicht hungern, dadurch war die Hungerphase abgepuffert. Jetzt bin ich in der vierten Phase.
Würden Sie anderen AktivistInnen raten, dasselbe zu tun?
Mit dem Staffelhungern hätte ich das gedacht, weil das eine ungefährliche Methode gewesen ist, einen nach vorne zu stellen und abzupuffern, um wirklich harte Fragen zu stellen. Weil der dann nicht in Lebensgefahr ist, weil das immer das Problem ist. Aber es hat keiner übernommen.
Ansonsten muss das jeder für sich selbst entscheiden. Ich habe mich vier Jahre auf die Aktion vorbereitet, nicht auf heute, sondern auf den Beginn der Aktion vor drei Jahren. Ich habe zum Beispiel dafür gesorgt, dass ich alleine lebe und keine Schulden habe, weil die sofort explodieren, wenn kein Geld reinkommt.
Denn wenn es um Leben und Tod geht und ich mich schlussendlich entscheide, das bis zum Tod durchzuziehen, muss alles geklärt sein. Du kannst auch nicht ohne Weiteres zu Freunden gehen und sagen, du setzt dein Leben aufs Spiel. Ich würde das den Leuten nicht empfehlen, aber ein bisschen mehr von allen erwarten, als nur zu gucken, wie man durchkommt.  Allen Hartz-IV-Gruppen geht es immer nur darum, wie man durchkommt. Wir sind eine Grundeinkommensgruppe, da ist generell eine andere Grundstimmung drin.
Wie halten Sie das Hungern durch? Benutzen Sie bestimmte Techniken?
Ja, wenn man sich darauf nicht vorbereitet, kann man das nicht durchstehen. Und mein Motto heißt: Der Staat soll leiden und nicht ich. Die Details will ich Ihnen hier mal ersparen, aber es ist nicht immer ganz angenehm.
Als Sie vor kurzem im Krankenhaus waren, wurden Sie da zwangsernährt?
Nein. Ich werde ja gehungert, deswegen besteht keine Selbstgefährdung. Sobald ich Essen bekomme, esse ich ja auch. Wenn ich einen längeren Krankenhausaufenthalt wegen einer schweren Erkrankung hätte, dann würde ich auch im Krankenhaus essen. Denn da bekäme ich im Sinne des Systems Essen,  ohne, dass es die Menschenwürde untergräbt. Das ist der Punkt.
Sie haben selbst lange in der Krankenpflege gearbeitet. Wie lange kann der Körper so etwas aushalten?
Da habe ich überhaupt keine Ahnung. Das ist für mich eine totale Überraschung, dass ich hier noch sitze. Wir haben damit gerechnet, dass ich sechs Wochen überstehe.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Ihr Körper das so lange aushält?
Ja. Anders als bei Holger Meins (Anm. d. Red.: Meins war Mitglied der RAF und starb nach 58 Tagen bei seinem dritten Hungerstreik im Gefängnis) oder anderen habe ich ein Umfeld, das mich trägt. Und zwar vollständig. Ich habe die Frage des Überlebens völlig geklärt. Ich will nicht sterben, aber ich will auch nicht leben. Ich will im Sinne der Würde leben, alles andere ist völlig egal. Ich bin mit mir total im Reinen. Und ich kann für mich sorgen. Das heißt, ich kann die Abführproblematik regeln, und ich habe ein Team, das mich wirklich stützt. Ich kann eigenständig Entscheidungen treffen und bin von niemandem abhängig.
Interessieren sich auch Menschen dafür, die nicht selbst betroffen sind?
Total.
Wie nehmen Sie in Gesprächen mit Leuten die Debatte um das Thema Menschenwürde und Sanktionspraxis wahr? Hat sich etwas an der Wahrnehmung des Themas geändert?
Über die Ansichten der anderen kann ich wenig sagen, aber meine Wahrnehmung auf diesem Gebiet ist teilweise sehr viel tiefer geworden. Ich verstehe inzwischen sehr viel mehr ganz wichtige Sachen, aber es würde jetzt zu lange dauern, darauf einzugehen. Ich kann nur sagen, dass das Thema Tod in der politischen Arbeit eine völlig andere Bedeutung für mich bekommen hat. Seitdem ich diese Sphären mitdenke, eröffnen sich mir ganz andere Perspektiven. Das hätte ich vorher nicht gedacht. Und wenn wir mit dem Grundeinkommen etwas Richtiges in die Welt bringen wollen, dann müssen wir auch mal eine Dimension höher gucken.
 Was halten Sie von dem Begriff Märtyrer?
Ganz schlechter Begriff. Total schlechter Begriff, absolut schlecht.
Was hat es mit dem roten Schal auf sich?
Ich vertrage es unheimlich schlecht, ihn nicht zu haben. Ich hatte früher immer stark Angina und deswegen trag ich ihn immer. Aber mittlerweile ist er schon ein richtiges Symbol geworden. Ich gehe damit aber nicht schlafen oder duschen, nur wenn ich rausgehe, trage ich ihn.
Würden Sie es als Zeichen der Solidarität empfinden, wenn andere auch einen roten Schal tragen würden?
Ja, das fände ich nett. Aber ich finde Gelb noch besser, weil Gelb die Farbe des Grundeinkommens ist. So ein richtig schönes leuchtendes Sonnengelb, das wäre für mich die Farbe des Grundeinkommens. Das Rot des Schals hat noch was mit Revolution zu tun.
Was würden Sie mit einem bedingungslosen Grundeinkommen machen?
Ich? Also mein Spezialgebiet ist geistige Schulung. Und da hätte ich unwahrscheinlich viel zu tun. Das Problem ist nur: Die Leute heute haben alle kein Geld. Deswegen mache ich das immer kostenlos. Für mich ist ja das, was ich hier mache, auch geistige Schulung, in gewissem Sinne auch für mich natürlich, aber auch für andere. Ich wäre vollbeschäftigt, genauso wie jetzt. Solange das Hartz-IV-System existiert, bin ich vollbeschäftigt damit, es abzuschaffen.
Haben Sie eine Botschaft an die Menschen? Vielleicht auch an die jüngeren?
Es gibt sehr viele Menschen in Hartz IV, die sehr leiden. Aber an eines sollen sie immer denken:
„Das Leid der einen Zeit ist die Kraft der anderen“.

Weg mit der #Agenda2010

Quelle: via @Grundeinkommen.de, September 20, 2015 at 10:34AM

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